* 14 *
Marcia war gereizt. Sehr gereizt. Gleichzeitig zwei Zauber aufrechtzuerhalten war schwierig. Zumal der eine, nämlich die Projektion, eine Umkehrform der Magie war und im Unterschied zu den meisten anderen Zaubern, die sie benutzte, noch Verbindungen zur dunklen Seite hatte, oder zur anderen Seite, wie Marcia sie lieber nannte. Nur mutige und geübte Zauberer konnten mit Umkehrzaubern arbeiten, ohne das Andere auf den Plan zu rufen. Alther war ihr ein guter Lehrer gewesen, denn in vielen Zaubern, die er von DomDaniel gelernt hatte, steckte tatsächlich noch schwarze Magie, und Alther hatte es geschickt verstanden, sie unschädlich zu machen. Marcia wusste nur zu gut, dass jedes Mal, wenn sie mit einer Projektion arbeitete, das Andere nur auf eine Gelegenheit lauerte, in den Zauber einzudringen.
Aus diesem Grund fand Marcia, dass sie sich jetzt nicht mit anderen Dingen belasten konnte, schon gar nicht mit Höflichkeiten.
»Zum Kuckuck, sieh zu, dass du das verflixte Boot wieder flottmachst«, pflaumte sie Nicko an.
Nicko war gekränkt. Es bestand kein Grund, so mit ihm zu reden.
»Dann muss jemand paddeln«, knurrte er. »Und es würde nicht schaden, wenn ich sehen könnte, wo wir hinfahren.«
Unter großer Anstrengung, was sie noch gereizter machte, trieb Marcia einen Tunnel durch den Nebel. Silas schwieg. Er wusste, dass Marcia enorm viel Zauberkraft und Können aufbieten musste, und zollte ihr dafür widerwillig Respekt. Er selbst hätte sich niemals an eine Projektion gewagt oder gar gleichzeitig versucht, eine Nebelbank aufrechtzuerhalten. Sie war ziemlich gut, das musste er ihr lassen.
Silas überließ Marcia ihrer Magie und paddelte durch den dichten weißen Kokon des Nebeltunnels, während Nicko vorsichtig auf den Sternenhimmel am Ende des Tunnels zusteuerte. Wenig später schrappte das Boot über groben Sand, und die Muriel bumste gegen ein dickes Büschel Riedgras.
Sie hatten die rettenden Marram-Marschen erreicht.
Marcia stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und ließ den Nebel sich auflösen. Alle entspannten sich bis auf Jenna, die als einziges Mädchen unter sechs Jungen das eine oder andere gelernt hatte. Sie hatte Junge 412 den Arm auf den Rücken gedreht und drückte ihn noch immer mit dem Gesicht auf die Planken.
»Lass ihn los«, sagte Nicko.
»Wieso?«, fragte sie.
»Er ist nur ein dummer Junge.«
»Aber er hat uns fast ans Messer geliefert«, erwiderte sie zornig. »Wir haben ihm das Leben gerettet, als er unterm Schnee begraben lag, und er verrät uns.«
Junge 412 schwieg. Unterm Schnee begraben? Sein Leben gerettet? Er konnte sich nur daran erinnern, dass er draußen vor dem Zaubererturm eingeschlafen und im Zimmer der Zauberin als Gefangener wieder aufgewacht war.
»Lass ihn los, Jenna«, sagte Silas. »Er begreift nicht, was hier gespielt wird.«
»Na schön«, sagte sie und entließ Junge 412 widerstrebend aus ihrem Fesselgriff. »Aber in meinen Augen ist er ein Schwein.«
Junge 412 setzte sich langsam auf und rieb sich den Arm. Es gefiel ihm nicht, dass ihn alle so anglotzten. Und noch weniger gefiel ihm, dass die Prinzessin ihn als Schwein beschimpfte, wo sie doch vorher so nett zu ihm gewesen war. Er rutschte so weit wie möglich von ihr weg und versuchte dahinter zu kommen, was hier gespielt wurde. Es war nicht einfach. Das alles ergab keinen Sinn. Er rief sich ins Gedächtnis, was er bei der Jungarmee gelernt hatte.
Tatsachen. Nur Tatsachen zählten. Gut und Schlechte. Also:
Erstens: Entführt. SCHLECHT.
Zweitens: Uniform gestohlen. SCHLECHT.
Drittens: In Müllschlucker gestoßen. SCHLECHT. SEHR SCHLECHT.
Viertens: Auf zugiges stinkendes Boot geworfen. SCHLECHT.
Fünftens: Von Zauberern (noch) nicht getötet. GUT.
Sechstem: Von Zauberern wahrscheinlich bald getötet. SCHLECHT.
Junge 412 zählte die guten und die schlechten Punkte zusammen. Wie üblich überwogen die schlechten, was ihn nicht überraschte.
Nicko und Jenna kletterten aus dem Boot und erklommen die grasbewachsene Uferböschung hinter dem Sandstrand, auf dem die Muriel jetzt mit schlaffen Segeln lag. Nicko wollte als Bootsführer eine Pause einlegen. Er nahm seine Aufgabe als Skipper sehr ernst, und solange er auf der Muriel weilte, fühlte er sich irgendwie für alles verantwortlich und gab sich selbst die Schuld, wenn etwas schief ging. Jenna war froh, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, auch wenn er ziemlich feucht war – das Gras, in das sie sich gesetzt hatte, fühlte sich weich und glitschig an, als sprieße es aus einem großen nassen Schwamm, und obendrauf lag eine dünne Schneeschicht.
In sicherer Entfernung von Jenna hob Junge 412 vorsichtig den Kopf, und was er sah, ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Magie. Mächtige Magie.
Er starrte Marcia an. Er konnte den magischen Energienebel sehen, der sie umgab, auch wenn er niemand außer ihm zu überraschen schien. Er schimmerte lila, flimmerte auf ihrem Umhang und überzog ihre dunklen Locken mit einem violetten Glanz. Ihre leuchtend grünen Augen funkelten, während sie in die Unendlichkeit starrte und sich einen Stummfilm ansah, den nur sie sehen konnte. Obwohl Junge 412 bei der Jungarmee eine Ausbildung in Zauberabwehr absolviert hatte, war er tief beeindruckt.
Der Film, den sich Marcia ansah, zeigte natürlich die leiruM und die Spiegelbilder ihrer sechs Besatzungsmitglieder. Sie segelten schnell der breiten Flussmündung entgegen und hatten fast die offene See bei Port erreicht. Ihr Tempo war für ein so kleines Segelboot unglaublich hoch, und zum Erstaunen des Jägers hielt das Schnellboot zwar den Sichtkontakt zur leiruM, kam aber nicht so nahe an sie heran, dass er seine Silberkugel abfeuern konnte. Zudem erlahmten die Kräfte der zehn Ruderer, und der Jäger, der unablässig »Schneller, ihr Idioten!« brüllte, war schon ziemlich heiser.
Der Lehrling hatte die ganze Verfolgungsjagd über brav hinten im Boot gesessen. Je mehr sich der Jäger in seine Wut hineingesteigert hatte, desto kleinlauter war er geworden und desto tiefer hatte er sich in seinem Winkel verkrochen, direkt neben den Schweißfüßen von Ruderer Nummer zehn. Doch irgendwann begann Ruderer Nummer zehn, sehr rüde und höchst interessante Bemerkungen über den Jäger vor sich hin zu murmeln, und der Lehrling wurde wieder etwas mutiger. Er blickte zur leiruM, die förmlich übers Wasser flog. Und je länger er die leiruM beobachtete, desto deutlicher hatte er das Gefühl, das hier etwas faul war.
Schließlich fasste er sich ein Herz und rief dem Jäger zu: »Ist Ihnen schon aufgefallen, dass der Name des Boots rückwärts geschrieben ist?«
»Willst du mich vergackeiern, Bürschchen?«
Der Jäger hatte scharfe Augen, aber vielleicht nicht so scharfe wie ein zehneinhalbjähriger Junge, dessen Hobby es war, Ameisen zu sammeln und zu bestimmen. Nicht umsonst hatte der Lehrling stundenlang hinter der Camera obscura seines Meisters gesessen und aus den fernen Ödlanden den Fluss beobachtet. Er kannte den Namen und die Geschichte jedes Bootes, das ihn befuhr. Er wusste, dass das Boot, das sie vor dem Nebel verfolgt hatten, die Muriel war, gebaut von einem gewissen Robert Gringe und zuletzt als Heringsfänger vermietet. Und er wusste, dass das Boot nach dem Nebel leiruM hieß, und »leiruM« war die spiegelverkehrte Schreibweise von »Muriel«. Und er war lange genug DomDaniels Lehrling, um zu wissen, was das bedeutete.
leiruM war eine Projektion, eine Erscheinung, eine Sinnestäuschung, ein Trugbild.
Zum Glück für den Lehrling, der sich gerade anschickte, den Jäger über diesen interessanten Punkt aufzuklären, leckte im selben Augenblick drüben auf der echten Muriel der Wolfshund Maxie Marcia freundlich die Hand und sabberte sie voll. Marcia ekelte sich so vor der warmen Hundespucke, dass ihre Konzentration kurz nachließ, und für eine Sekunde verschwand die leiruM vor den Augen des Jägers. Sie erschien sogleich wieder, aber da war es schon zu spät. Die leiruM hatte sich verraten.
Der Jäger brüllte vor Wut und schlug mit der Faust auf die Munitionskiste. Dann brüllte er wieder, aber diesmal vor Schmerz. Er hatte sich den Mittelhandknochen des kleinen Fingers gebrochen. Und das tat weh. Sich die Hand reibend, schrie er die Ruderer an: »Wenden, ihr Idioten!«
Das Schnellboot stoppte, die Ruderer drehten ihre Sitze um und ruderten in die entgegengesetzte Richtung. Der Jäger fand sich im Heck des Bootes wieder. Und der Lehrling zu seiner Freude ganz vorn.
Doch das Schnellboot war nicht mehr die gut funktionierende Maschine, die es gewesen war. Die Ruderer ermüdeten rasch und nahmen es gar nicht gut auf, dass sie von einem immer rabiater werdenden Möchtegernmörder angebrüllt und beschimpft wurden. Ihre Ruderschläge wurden langsamer, und das Boot glitt nicht mehr so ruhig durchs Wasser.
Der Jäger saß mit finsterer Miene im Heck. Er wusste, dass er zum vierten Mal in dieser Nacht die Spur verloren hatte. Die Jagd nahm eine ungünstige Wendung.
Umso mehr freute sich der Lehrling. Er kauerte nun vorn im Bug, hielt ähnlich wie Maxie die Nase in den Wind und genoss das Gefühl der Nachtluft auf seiner Haut. Außerdem war ihm ein Stein vom Herzen gefallen, denn er hatte bewiesen, dass er seiner Aufgabe gewachsen war. Der Meister konnte stolz auf ihn sein. Er malte sich aus, wie er wieder vor ihm stand und ihm schilderte, wie er die hinterhältige Projektion durchschaut und die Situation gerettet hatte. Vielleicht war der Meister dann nicht mehr so enttäuscht von ihm, weil er kein Talent zur Zauberei hatte. Er gab sich Mühe, wirklich, aber irgendwie bekam er nie etwas richtig hin. Egal was.
Es war Jenna, die den gefürchteten Suchscheinwerfer in der Ferne um eine Biegung kommen sah.
»Sie kommen zurück!«, schrie sie.
Marcia zuckte zusammen, verlor die Projektion völlig, und im fernen Port verschwanden die leiruM und ihre Besatzung für immer, zum blanken Entsetzen eines einsamen Anglers, der auf der Hafenmauer saß.
»Wir müssen das Boot verstecken«, sagte Nicko, sprang auf und rannte am Ufer entlang. Jenna eilte ihm nach.
Silas schubste Maxie aus dem Boot und befahl ihm, sich hinzulegen. Dann half er Marcia beim Aussteigen. Junge 412 kletterte nach ihr von Bord.
Marcia setzte sich ans Ufer des Deppen Ditch, fest entschlossen, ihre lila Pythonschuhe so lange wie möglich trocken zu halten. Alle anderen, zu Jennas Überraschung auch Junge 412, wateten durchs seichte Wasser und schoben die Muriel vom Strand, bis sie wieder schwamm. Dann ergriff Nicko die Bugleine, zog das Boot in den Kanal und versteckte es hinter einer Biegung, wo es vom Fluss aus nicht zu sehen war. Jetzt, bei Ebbe, lag die Muriel so tief im Kanal, dass ihr kurzer Mast hinter der steilen Böschung verschwand.
Das Gebrüll des Jägers wehte über das Wasser, und Marcia reckte den Hals und spähte über die Böschung, um festzustellen, was da vor sich ging. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Der Jäger stand bedenklich weit hinten im Schnellboot, fuchtelte mit einem Arm wild in der Luft herum und feuerte eine Schimpfkanonade auf die Ruderer ab, die mittlerweile völlig aus dem Rhythmus waren und im Zickzack fuhren.
»Ich sollte es nicht tun«, murmelte Marcia. »Ich sollte es wirklich nicht tun. Es ist kleinkariert und rachsüchtig, und es setzt die Macht der Magie in ein schlechtes Licht, doch das ist mir schnuppe.«
Jenna, Nicko und Junge 412 erklommen die Böschung, um zu sehen, was Marcia vorhatte. Sie zeigte gerade mit dem Finger auf den Jäger und murmelte: »Mach einen Kopfsprung!«
Einen Sekundenbruchteil lang hatte der Jäger das komische Gefühl, gleich eine große Dummheit zu begehen – und dann beging er sie. Aus ihm unerfindlichen Gründen hob er elegant die Arme über den Kopf und senkte sie in Richtung Wasser. Dann beugte er langsam die Knie, hüpfte aus dem Boot und landete nach einem tadellosen Kopfsprung im eiskalten Nass.
Widerwillig und unnötig langsam setzten die Ruderer zurück und zogen den japsenden Jäger ins Boot.
»Das hätten Sie nicht tun dürfen, Sir«, tadelte ihn Ruderer Nummer zehn. »Nicht bei diesem Wetter.«
Der Jäger konnte nicht antworten. Seine Zähne klapperten so laut, dass er kaum denken, geschweige denn sprechen konnte. Die nassen Kleider klebten ihm am Leib, und er begann, in der kalten Nachtluft heftig zu zittern. Traurig ließ er den Blick über das Marschland schweifen. Mit Sicherheit waren seine Opfer dorthin geflüchtet, doch er konnte keine Spur von ihnen entdecken. Als erfahrener Jäger wusste er, dass es sinnlos war, mitten in der Nacht zu Fuß in die Marram-Marschen vorzudringen. Er konnte nichts mehr tun. Er hatte die Spur verloren und musste den Rückzug antreten.
Dann begann die lange Fahrt zurück zur Burg. Der Jäger kauerte im Heck des Schnellboots, pflegte seinen gebrochenen Finger und sann über das Scheitern der Jagd nach. Und über seinen Ruf.
»Geschieht ihm ganz recht«, sagte Marcia, »diesem gemeinen kleinen Kerl.«
»Nicht unbedingt professionell«, tönte eine vertraute Stimme vom Kanal herauf, »aber absolut verständlich, meine Liebe. In jungen Jahren wäre ich selbst in Versuchung geraten.«
»Alther!«, stöhnte Marcia und errötete leicht.